„Von nix kommt nix“

Seit vielen Jahren wollte der in Dortmund lebende gebürtige Engländer die deutsche Staatsangehörigkeit beantragen, doch es gab lange Zeit keinen wirklichen Grund, den Papierkram und die Gebühren dafür auf sich zu nehmen. Bis zum Brexit: „Seitdem fühlte ich mich als überzeugter Europäer irgendwie staatenlos“, erzählt John Brogden, der seit kurzem die deutsche Staatsbürgerschaft hat. „Der Brexit ist eine Katastrophe“, fügt er hinzu. Die Sicht eines Briten zu diesem Thema ist total spannend. Doch ich muss mich bremsen, denn darum geht es hier ja nur nebenbei.

John Brogden, Foto: Odile Brogden

„Ich hatte keine Stimme, weder in England, noch in Deutschland durfte ich an den Wahlen teilnehmen“

In Leeds studiert John in den 1960er-Jahren Germanistik mit Französisch als Nebenfach. Ein Gastsemester führt ihn an die Uni Göttingen. Dort lernt er seine erste Frau Helga kennen. Die beiden heiraten noch vor Ende des Studiums und leben die nächsten neun Jahre gemeinsam in Leeds. Nach seinem Abschluss arbeitet John bei einer englischen Firma, zunächst als Auslandskorrespondent, später als Exportleiter. Diese Tätigkeit bringt viele Reisen ins europäische Ausland mit sich, insbesondere nach Deutschland und Österreich.

Während der Zeit in Göttingen arbeitet der damals 21-jährige Student parallel in der Uni-Klinik als Assistent des Herz-Lungen-Maschinen-Technikers. Seine Aufgabe besteht in der Demontage, der Reinigung und dem Wiederzusammenbau des Geräts nach den Operationen. „Chirurgen unterhielten sich dort mit dem Reinigungspersonal. So etwas war in England damals unmöglich“, erzählt John begeistert.

Ein überzeugter Europäer

Mit dem Beitritt Englands zur EU 1973 genießt John als einer der ersten Briten die Freizügigkeit der EU-Bürger und übersiedelt mit seiner Frau nach Deutschland. Der neue Job als Inhouse-Übersetzer in Düsseldorf führt das Paar nach Kaarst in der Nähe von Neuss. Ihr Sohn Sven kommt ebenfalls in diesem Jahr zur Welt.

„Deutschland hatte sich positiv verändert. Es war nicht mehr so steif und förmlich wie in den 60ern. Die Atmosphäre im Übersetzungsbüro war locker und sehr angenehm. Die Frauen waren hier schon viel emanzipierter und trugen mit aller Selbstverständlichkeit Hosen. Das war in England zu dieser Zeit noch undenkbar“.

„Düsseldorf erlebte ich als kulturell sehr aufregend und inspirierend“

John beschäftigt sich zum ersten Mal mit Kunst und Fotografie, u. a. verkauft er damals Siebdruckgrafiken mit großem Erfolg. Die Kunst bleibt bis heute ein wichtiger Teil seines Lebens. Nach dreizehn Jahren als ‚Allrounder‘ bei der deutschen Firma macht er sich 1986 als Übersetzer selbstständig. Die Kunst und seine Arbeit wachsen immer mehr zusammen. Heute übersetzt er ausschließlich kunsthistorische Texte. Zu seinen Kunden zählt eine Reihe bekannter deutscher Museen.

John Brogden, Foto: Odile Brogden

„Obwohl wir lange verheiratet waren, war unsere Ehe nie besonders glücklich. Wir trennten uns 1990“. 1996 heiratet John ein zweites Mal: Odile, eine gebürtige Nordfranzösin und ebenfalls Übersetzerin, mit der er heute glücklich zusammen in Dortmund lebt und arbeitet.

Ein ungewöhnliches Hobby

John sammelt bereits seit vielen Jahren alte Kameras – das tun viele und ist nicht so ungewöhnlich. Darunter befindet sich eine Laufbodenkamera aus der Jahrhundertwende. Die dazu gehörigen Planfilmkassetten aus Holz sind verzogen und funktionieren nicht mehr. Die als Ersatz neu gekauften Kassetten erweisen sich als Fehlkauf: „Sie passten leider überhaupt nicht, waren jedoch so schön gearbeitet, dass ich beschloss, eine dazu passende Kamera selbst zu bauen“. Damit hat John bis heute nicht mehr aufgehört. Mit leuchtenden Augen zeigt er mir eine Laufbodenkamera, die er aktuell für einen Amerikaner fertigt, der es kaum erwarten kann, dass John und Odile sie ihm demnächst in Frankreich – dort haben sie ihn kennen gelernt – persönlich übergeben. Neben John gibt es weltweit nur noch eine Handvoll Menschen und Firmen, die sich mit dem Bau von Großformatkameras beschäftigen.

Das Ergebnis einer Großbildkamera, Foto: John Brogden

Natürlich fotografiert er auch mit seinen Großformatkameras und zeigt die S/W-Fotografien in Ausstellungen.

Seine Wünsche und Träume für die Zukunft:

Großformatkamera als Unikat von John gefertigt, Foto: Bernhard Krüsemann

„Trotz der aktuellen Krebs-Erkrankung möchte ich lange leben, mit genug Zeit und Raum, um noch viele Kameras bauen zu können. Und so leben, wie ich jetzt lebe. Seit der Erkrankung weiß ich, wie wichtig es ist, das Leben zu nutzen. Es verändert die Prioritäten“.

Johns Lebensmotto:

„Von nix kommt nix. Wenn man nichts unternimmt, passiert auch nichts und andere entscheiden über einen.“

Kamerabau auf dem heimischen Balkon, Foto: Odile Brogden

Zwischen den Ausstellungen findet die Ausstellung daheim statt, Foto: Odile Brogden

 

 

 

 

 

 

 

Am 16. Februar 2019 erhielt ich von seiner Frau Odile die Nachricht, dass John am 8. Februar 2019 nach langer und zuletzt schwerer Leidenszeit friedlich eingeschlafen ist.

Text: Annette Mertens

Fotos: Odile Brogden und Bernhard Krüsemann

„Wenn man selbst nicht aktiv wird, entscheiden andere über einen“

89 Gedanken zu “„Wenn man selbst nicht aktiv wird, entscheiden andere über einen“

  1. Obwohl das nicht das Wichtigste des Beitrags ist: diese detailversessene Technikaffinität, diese händische Geschicklichkeit bewundere ich. Eine Kamera selbst bauen! Ja, ich kenne auch so Leute. Die sich regelrecht freuen, wenn etwas nicht funktioniert, weil sie dann daran herumbasteln können, es auseinandernehmen und mit viel Geschick und etwas Glück auch wieder zusammensetzen – und oft sogar mit schlußendlicher Funktion!
    Das ist mir fremd. Gerade technische Dinge haben einfach zu spuren, zu gehorchen, zu funktionieren. Auf – wie altmodisch! – Knopfdruck! Aber wie gesagt, ich bewundere das.

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  2. Pingback: Abschied | Ruhrköpfe

  3. Na dann, alles Gute für den Mann mit und hinter den Kameras! :-)
    Ein wunderbares Portrait, Annette, macht großen Spaß zu lesen.
    (Wieso war das bei mir nicht im Reader, verd…??? Ich hasse es, verspätet über Artikel zu stolpern.)
    Einen schönen Abend dir, gerade puderzuckert es auch hier
    Christiane

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  4. Hat dies auf Wesentlich werden rebloggt und kommentierte:
    Annette stellt in ihrem Blog ganz besondere Menschen aus Dortmund vor.
    Zum ersten Mal habe ich über Laufbodenkameras gelesen, die John selbst herstellen kann.

    Johns Lebensmotto das gut in meinem Blog passt:
    „Von nix kommt nix. Wenn man nichts unternimmt, passiert auch nichts und andere entscheiden über einen.“

    Danke Annette für dieses besondere Portrait und an John meine Genesungswünsche mit Energie vom Zürichsee.

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  5. Liebe Annette,

    ich bin vom positiven, sehr zugeneigten Echo einfach überwältigt – ich möchte an dieser Stelle allen danken, die sich die Mühe gemacht haben, auf den Artikel schriftlich zu reagieren. Über die Gesundheitswünsche habe ich mich besonders gefreut. Danke!

    Liebe Grüße

    John

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  6. Ein sehr interessanter Bericht über den Werdegang von John Brogden.

    Er zählt zu den Glücklichen der seine Bestimmung gefunden hat und nach all den Jahren ein zufriedenes Leben führen kann. Ich wünsche ihm noch recht viele erfüllte Jahre, bei bester Gesundheit.

    Johns Lebensmotto:
    „Von nix kommt nix. Wenn man nichts unternimmt, passiert auch nichts und andere entscheiden über einen.“
    Hat mich ungemein beeindruckt!

    Dir gilt mein Dank für diesen Beitrag.

    LG Lilo

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  7. Liebe Annette,

    ich liebe solche Lebensgeschichten und diese, die auch das Europäische so betont ganz besonders.

    Ich drücke die Daumen, dass John seiner Krankheit mit seiner positiven Lebenseinstellung Paroli bieten kann.

    Liebe Grüße
    Volker

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  8. Erst dachte ich, die Brexit-Ansichten wären doch interessant! Das hat sich mit jedem Satz weiter gelegt und am Schluss direkt schon unwichtig. Leben und nicht leben-lassen scheint mir ein wichtiger Gedanke!
    Danke für das Portrait!

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  9. Ein fantastischer Lebenslauf! Wie schön, dass John sich auf die Kunst eingelassen hat. Seine selbstgebauten Kameras sind ja in sich selber schon Kunstwerke.
    Vielen Dank für diesen Beitrag, Annette!
    Ich wünsche John alles Gute, besonders natürlich, dass er den Krebs besiegt!

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  10. John ist mir aus vielerlei Gründen symphatisch und mit seiner Arbeit sehr nahe. Bestimmt wäre er in unserer Fotogruppe das Kalb mit den drei Hörnern und jeder würde ihn über die Fototechnik aushorchen. Ich drücke ihm beide Daumen, damit er wieder ganz gesund wird und uns als Europäer ein Vorbild bleibt! Lieben Dank für deinen schönen Beitrag Annette :-)

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  11. Was fällt mir dazu im Moment ein … Meine (176.) Tagebuchnotiz aus 2011
    *
    Ärger vergeht durch Taten

    Ärgere dich niemals über die DINGE,
    die du nicht ändern kannst …
    Ärgerst du dich aber dennoch,
    dann tue auch etwas – nämlich verändern !
    ___
    (C) PachT

    Gefällt 5 Personen

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