Die Herausforderungen des Lebens

Weil mich das Thema gerade persönlich betrifft, erzählt mir Iris (ihr kennt vielleicht ihr Portrait: „Mein Bauch sagte mir, das funktioniert“ – Le chat qui lit) von einer ehrenamtlichen Sterbebegleiterin. Während sie darüber spricht, läuft vor meinem geistigen Auge das nächste Ruhrköpfe-Portrait ab. Einige Wochen später treffe ich sie persönlich zum Interview:

Zwei Katzen, acht Hühner und ein Pferd

Vera mit Ella und Eddie, Foto: privat

Als Vera mir die Tür öffnet, werde ich direkt vom roten Kater Eddie und Glückskatze Ella neugierig beäugt und freundlich begrüßt.

Bei Tee und Kuchen erzählt mir die gebürtige Rheinländerin von ihrem beruflichen Werdegang. Zunächst absolviert sie das Studium der Soziologie mit den Nebenfächern Psychologie und Politische Wissenschaften in Bonn. Nebenbei arbeitet die Studentin in der Altenpflege. Bereits in dieser Zeit sieht sie die große Herausforderung des demografischen Wandels und der alternden Bevölkerung.

Die Arbeit führt sie nach Dortmund

Während des Studiums spezialisiert sich Vera auf das Gebiet der Altersforschung und arbeitet anschließend am Institut für Gerontologie an der Dortmunder Universität.

Zwischendurch noch ein Doktortitel

Zunächst arbeitet Vera an ihrer Doktorarbeit über die Situation älterer Migranten in Deutschland und Großbritannien. Die Uni Dortmund verleiht ihr dafür den „Doktor der Philosophie“.

Vera während einer beruflichen Moderation, Foto: privat

Nach einigen Jahren erfolgreicher leitender Tätigkeiten, parallel dazu seit 2007 selbstständig als Sozial-Gerontologin ergibt sich für Vera die Möglichkeit, von der viele träumen. Sie bekommt das Angebot einer unbefristeten Anstellung beim NRW-Gesundheitsministerium. Was nach einem spannenden und sehr gut bezahlten Job klingt, entwickelt sich für Vera zum Alptraum: Machtspielchen ohne Ende, bis zu fünf Stunden täglich Pendeln mit dem Regionalexpress, Home-Office ist nur ein theoretisches Konstrukt und dazu ein todkranker Freund.

Es dauert nicht lang

Vera beendet nach einem knappen halben Jahr die Arbeit beim Ministerium. Sie findet sofort ein neues Projekt, arbeitet wieder selbständig und nimmt sich viel Zeit für die Begleitung ihres Freundes. Um diese Erfahrungen zukünftig verstärkt einsetzen zu können, absolviert sie anschließend einen Grund- und Vertiefungskurs zur ehrenamtlichen Sterbebegleiterin.

Frei durch den Mix als Angestellte und Selbstständige

Neben ihrer Selbstständigkeit arbeitet Vera wieder am Institut für Gerontologie und leitet verschiedene Projekte. Dabei geht es z.B. um neue Mobilitätsangebote für ältere Menschen oder die Frage, wie Pflegeheime ihre hospizliche und palliative Versorgung verbessern können.

Parallel ist sie bis Ende letzten Jahres für eine Wirtschaftsförderung im Sauerland im Bereich der (digitalen) Gesundheitswirtschaft tätig. „Ich kündigte, als ich ethisch nicht mehr hinter dem Projekt stand“, fügt Vera hinzu. 

Ihre Tätigkeit als Sterbebegleiterin gehört weiterhin fest zu ihrem Leben dazu.

Ansage im Domicil, Foto: Kurt Rade

Musik, insbesondere Jazz, spielt für Vera eine wichtige Rolle. Sie hört sie nicht nur gern, sondern engagiert sich viele Jahre als Mitglied des Dortmunder Jazzclub „domicil“. Seit über zehn Jahren moderiert Vera dort die Auftritte der Musiker.

Durch ihr früheres intensives Karate-Training und ihr großes Interesse an Japan kommt Vera mit dem Thema Reiki in Berührung. Animiert durch positive Erfahrungen aus dem Bekanntenkreis probiert sie es aus und merkt schnell, wie gut es ihr tut, denn: „Es macht mich ausgeglichener und stärker“. Sie bleibt dabei und absolviert selbst eine Ausbildung zur Reiki-Meisterin.

Ein Island-Pferd führt sie aufs Land

Vera und Goliat, Foto: privat

Innerhalb einer Woche fällt die Entscheidung für das Pferd, die Wohnung und den Stall: „Ich habe mir mit dem Isländer „Goliat“ meinen Lebens-Traum erfüllt und bin direkt auf das Land gezogen. Das alles gibt mir Kraft“. Seit etwa drei Jahren lebt Vera mit ihren Tieren in der ländlichen Umgebung von Unna. Gerade in Corona-Zeiten erholt Vera sich hier durch Zeit mit Freunden und den Tieren. Als ich sehe, wie ihre acht Hühner Herta, Berta, Lisbeth, Roberta, Martha, Paula, Antonia und Senta ihr im Garten entgegen rennen wie Hunde, verstehe ich, was sie meint. Da ist jeder Stress sofort vergessen.

 

Garten-Inspizierung, Foto: privat

Ihre Wünsche für die Zukunft: „Es ist gut, wie es gerade ist“

setzt Vera fort: „Ich habe viel gesehen und möchte gar nicht mehr so viel reisen. Mein größter Wunsch ist, die Herausforderungen meines Lebens zu meistern“.

Ihr Lebensmotto ist ein Zitat von John Lennon: „Life is what happens while you are busy making other plans“.

Weitere Infos findet ihr unter https://www.ger-on.de

Text: Annette Mertens

Fotos: Kurt Rade/Domicil und privat

 

 

Die Herausforderungen des Lebens

48 Gedanken zu “Die Herausforderungen des Lebens

  1. Mutige Entscheidung, eine sichere Anstellung aufzugeben, gerade wenn man einen Patienten mitzuversorgen hat. Offensichtlich eine starke Persönlichkeit, die sich nicht so leicht – beispielsweise von ein paar Hinterlassenschaften der Hühner auf der Tischdecke – unterkriegen läßt. Und irgendwie klappte dann auch Vieles, dem Artikel zu Folge.
    Nun, gestorben wird immer. Und wurde schon immer. Unser Problem, und es wäre sicher interessant, was diese Fachfrau dazu sagt, ist: dass es diese Menge an Menschen ist, die sich gerade, rein altersmäßig, in diese objektiv gegebene Richtung bewegt. Und so wenige da sind, sich darum zu kümmern, was zu Überlastung führt. In einer Zeit, in der man sich das bewußte Hinschauen, das Miterleben des Sterbens, des Todes, auch des Leidens ganz allgemein recht gründlich abgewöhnt hat. Nicht zuletzt ist das einer der positiven Aspekte, wenn ausländische Kräfte die wenigen Pfleger hierzulande unterstützen: in anderen Gesellschaften ist diese künstliche Trennung, Entfremdung oft noch nicht so weit gediehen.

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  2. Liebe Annette, einen wirklich wundervollen Text, den du über Vera verfasst hast!😍✨

    Ich durfte Vera vor 7½ Jahren kennenlernen und wurde direkt mit offenen Armen von ihr aufgenommen. Sie ist wie eine Ersatzmutter für mich, hat immer ein Offenes Ohr für mich und ist immer da.
    Ich habe Vera schon immer für ihr Handeln bewundert, weil dies immer aus ihrem Herzen heraus geschehen ist. Ihr Portrait zu lesen hat mir glasige Augen bereitet, denn ich durfte bei so vielen Erlebnissen ein Teil sein und habe vieles miterleben dürfen. Beim Lesen lief vor meinen inneren Augen eine art Film ab, von all den erlebten Ereignissen an denen ich Teilhaben durfte. Ich bewundere Vera für das, was sie schon alles in ihrem Leben geschafft und erlebt hat und kann immer nur zu dieser Starken Frau aufsehen!

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  3. Was für eine ungewöhnliche Frau du uns wieder so lebendig vorstellst! Deine bewsegten Bilder dazu unterstreichen das Leben in Vielfalt! Es ist immer wieder schön, von Menschen zu erfahren, die sich gefunden haben und unbeirrt ihren Lebensweg gehen und den rictigen Platz in ihrem Leben finden! Gott sei Dank ist das eben auch möglich! Herzlichen Dank und lieben Gruß, Petra

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  4. Liebe Annette, das hat sich so großartig gelesen, so dass mir diese Frau in ihrer Vielfalt, ihrer Geradlinigkeit und ihrem bisher gelebten Leben sofort sympathisch war.
    Ich habe ja meinen Freund auch bis zum Tod begleitet, aber da es so wahnsinnig schnell ging, waren es mal gerade 3 Monate, 6 Wochen davon ganz intensiv. Ich versuche mich mal so einzuschätzen, ob ich mich als ehrenamtliche Sterbebegleiterin eignen würde – ich sage: „eher nein“ – für mich wäre die Betreuung von Häftlingen eher vorstellbar.
    Einen guten Abend wünsche ich dir – herzlich
    Clara

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      • Von 2004 bis 2018 habe ich ganz intensiv Kinderbetreuung gemacht – über das Jugendamt und über den Großelterndienst Berlin. Doch meine Ohren verboten ein Weitermachen – ich habe die Kinder viel, viel zu schlecht verstanden – besonders nicht ihre hohen, quietschigen Stimmen.
        Und da ich auch Zeit meines Lebens keine Dialekte oder kaum welche verstehe – auch im direkten Gespräch – erübrigt sich für mich leider alles, was mit Sprache und Verstehen zu tun hat – ist schon ein echter großer Sch….
        Lieben Gruß

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        • Das tut mir leid, doch wer weiß, wofür es gut ist. Ich denke immer mal wieder darüber nach, die Gebärdensprache zu lernen, weil ich es mir sehr angenehm vorstelle, „still“ zu kommunizieren, in dieser Welt, die mir oft viel zu laut ist. Liebe Grüße, Annette

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  5. Schön und liebenswert. Lebendig.
    „es ist gut, wie es gerade ist“, ist ein passender Satz für sie als Individuum, und tatsächlich für jedes Individuum, aber nicht für die gesellschaftlichen Verhältnisse, die es zwar ihr ermöglichten, sich auszuprobieren und die Welt zu sehen, so dass sie sich nach vielen Umwegen und Sackgassen ein befriedigendes Arbeits- und Lebensfeld aufbauen konnte, die aber heute zunehmend verengend wirken und eben solche Erfahrungen nicht mehr zulassen.

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  6. Was für ein wunderbares Portrait! Sehr gut getroffen! Ich durfte mir ja schon selber ein Bild von ihrem Paradies machen und erleben, wie die Schicksen, also die Hühner, angerannt kommen. Herrlich! Ich musste wieder schmunzeln, als ich das las. Die Power, die Vera hat und die positive Ausstrahlung sind sehr gut eingefangen. Annette, Du hast wieder mal Deine Stärke der weltbesten Zuhörerin bewiesen. :-)

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  7. Du hast uns wieder eine tolle Frau vorgestellt liebe Annette , die einfach ihr Ding macht , egal wie das außen reagiert und das finde ich sehr mutig und vorallem gibt es anderen einen Impuls , einfach machen und zu dem zustehen , was man möchte .
    Liebe Grüße mona

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  8. Annette du stellst uns heute wieder eine starke Frau vor. Es ist bewundernswert was sie für eine Entwicklung hinter sich hat und nun mit beiden Beinen fest im Leben steht.
    Beim Lesen deines Berichtes, habe ich den Eindruck gewonnen – sie hat in ihrer Tätigkeit eine gewisse Erfüllung gefunden.
    Aber auch starke Menschen brauchen ab und zu eine Tankstelle und die findet bei ihren Hobbys und der Freundschaft zu ihren Tieren.
    Es erfreut mich immer wieder von solch besonderen Menschen zu lesen.
    Hab Dank für deinen Bericht.
    Viele Grüße, Lilo

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  9. Eine interessante und vielseitige Frau, die anscheinend nicht lange fackelt, wenn sie sich zu etwas entschieden hat. Ich finde es speziell wunderbar, dass sie Sterbende begleitet. Das ist so wichtig und sicherlich nicht leicht. Ich wünsche ihr alles Gute für jetzige und zukünftige Pläne.

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