„Nichts sollte sich ändern und doch ändert sich alles“

 

Den Tipp für das neue Portrait erhalte ich vor einigen Wochen von einer guten, langjährigen Freundin, Maggie Ackermann, deren Fotos ihr im Neujahrsbeitrag Anfang 2020 vielleicht schon gesehen habt.

Annette Gertdenken, Foto: privat

Die Frau, die ich euch heute vorstelle, stammt ursprünglich aus dem münsterländischen Rhade, einem kleinen Dorf bei Dorsten. Als älteste von drei Geschwistern möchte Annette Gertdenken zunächst Verkäuferin oder Dekorateurin werden. Doch nach Abschluss der Schulausbildung ändert sie ihren Berufswunsch auf Erzieherin, um weniger ans Haus gebunden zu sein. Durch die Ausbildung in Gladbeck und die dort entstehenden Freundschaften verbringt sie viel Zeit im Ruhrgebiet.

Anschließend arbeitet sie in einem Bottroper Wohnheim für behinderte Menschen und in einem Kinderheim, sowie in diversen Erzieher-Bereichen, bis sie – inzwischen zur Heilpädagogin fortgebildet – in die Frühförderung einsteigt und ihr Herzblut findet: Annette begleitet dort schwerpunktmäßig Familien mit behinderten und auffälligen Kindern.

Statt in Afrika im Engadin gelandet

Nach einigen Jahren steigt sie kurz aus dem pädagogischen Bereich aus, um eine Ausbildung zur Mediengestalterin abzuschließen. Der Liebe wegen folgt ein Mix aus längeren Aufenthalten in der Schweiz und in Österreich. Nebenbei arbeitet sie als Verkäuferin, engagiert sich wieder viel in der Frühförderung und absolviert außerdem in Österreich eine Ausbildung zur Gestaltpädagogin.

Eine sehr vielseitige Arbeit in vielen verschiedenen Sprachen

bringt die Zeit in der Schweiz für Annette und ihren Schweizer Partner. Sie entdeckt Yoga für sich und schließt später eine Ausbildung zur Yogalehrerin ab. Nach einigen Jahren beendet Annette das, sie inzwischen sehr belastende, Leben an der schweizerisch-österreichischen Grenzregion und kehrt mit Nichts nach Deutschland zurück: Sie leitet kurz darauf im Ruhrgebiet einige Yogakurse, steigt wieder in die Erwachsenenbildung und in die familientherapeutische Arbeit ein.

Yoga auf Annettes „Lieblingsalm“, Foto: privat

Nichts sollte sich ändern, doch es ändert sich alles

Etwa vier Monate, nachdem Annette ihren heutigen Partner Bernd kennenlernt, erhält sie 2012 die Diagnose Krebs.  Dessen ungeachtet bietet sie drei Mal pro Woche in einem Fitness-Studio Yoga an und belegt zusätzlich eine Ausbildung zur Entspannungspädagogin.

Yoga für an Krebs erkrankte Frauen, Foto: privat

Während der einjährigen Krebstherapie unterrichtet sie, trotz des Kopfhaarverlustes durch die Behandlung, im Krankenstand weiter und bereitet in der Klinik ihre Kurse vor. Auf Wunsch anderer an Krebs erkrankter Frauen entwickelt sie die Idee, Yoga für krebskranke Frauen anzubieten. So entstehen sechs Yoga-Kurse und die Patienten-Initiative IMPULS in Bottrop, bestehend aus Yoga, QiGong und Angeboten der Teilnehmerinnen ‚von Betroffenen für Betroffene‘, wie z. B. Brotback-, Ernährungs- und Nähkurse, Pilgergruppen uvm.

Ergänzend absolviert Annette 2016/2017 eine Ausbildung zur Psychoonkologin. Nicht nur als Teilnehmerin, sondern auch als Dozentin leitet sie am selben Institut in die Fortbildung integriert, Yoga- und Entspannungs-Kurse.

Nach Corona müssen wir alles neu sortieren

Annette erweitert aktuell ihre Idee für Krebserkrankte auf das Münsterland und Bottrop mit bereits drei Yoga-Gruppen.

In Oberhausen, wo wir gerade dieses Interview führen, eröffnet Annette, zusätzlich zu ihren bisherigen Angeboten, mit zwei Kolleginnen im Sommer 2020 eine gemeinsame Praxis. Durch Corona gestoppt, bevor es überhaupt richtig anfangen kann – zunächst!

Flyer für Oberhausen, Foto: privat

In dieser Praxis in einem alten Pastoratshaus in Oberhausen bieten die drei Frauen ab 2021 Therapie, Workshops und eine Coaching-Reihe an. Sie planen feste Gruppen und Aktionen mit den Teilnehmerinnen, z. B. zu Themen, wie ‚Angst‘ oder ‚Krise‘. Im selben Haus befindet sich ein Café, das sie mit ihren Räumen und der Gastronomie (die uns gerade mit frisch duftendem Kaffee und selbstgebackenen, leckeren Nussecken versorgt) einbinden werden. Da Annette bisher überwiegend mit von Krebs betroffenen Frauen arbeitet, möchte sie ihr Angebot zusätzlich auf die angehörigen Partner und Kinder erweitern, denn auch sie macht die Krebserkrankung häufig ’sprachlos‘. Hier finden Partner und Kinder die dringend notwendige Entlastung, im geschützten Rahmen über ihre Themen zu sprechen und Rückhalt zu erfahren.

Ein weiterer Yogakurs für Krebs erkrankte Frauen Foto: privat

Coronabedingt fallen insgesamt elf Kurse, unter anderem auch in Kliniken für krebskranke Frauen, sowie ihre Weiterbildungskurse für Yoga-Lehrer und Sozialassistenten aus.

Davon lässt sich Annette nicht unterkriegen:

Parallel finanziert die quirlige Frau ihr Leben mit kleinen festen Stellen.

In einem neu gegründeten Institut in Borken berät und begleitet sie zusätzlich befristet mit einer halben Stelle u.a. psychisch erkrankte Menschen und deren Angehörige in Gesundheits- und Arbeitsfragen.

Annette Gertdenken, Foto: privat

Annettes Lebensmotto: „Mit der Erkrankung kam etwas Neues dazu: Mein Leben ist nicht unendlich, doch hatte ich keine Angst vor dem Krebs. Ich wollte diese Krankheit sachlich sehen, war immer in Bewegung – im wahrsten Sinne des Wortes und fühlte mich dadurch gut geerdet in dieser Zeit der Therapien, denn Stillstand ist für mich der Tod“.

„Gucken, was geht, statt zu gucken, was nicht geht“

Insbesondere Dankbarkeit zu lernen für vieles, was in unserem Land gut bis sehr gut läuft, statt nur auf die Defizite zu schauen: „Ich bin glücklich, weil ich vieles, was ich möchte, umsetzen bzw. alles, was ich nicht möchte, ändern kann – das nenne ich Glück“.

Ihre Wünsche und Ideen für die Zukunft: Als Nahziel in 2021 ein Krebs-Zentrum mit begleitendem und beratendem Kompaktangebot.

Später ein Haus für sterbende Menschen am Meer für die ‚letzte Reise‘, sowie ein Angebot an Palliativ-Reisen zum Strand nach Holland o. ä.

Außerdem möchte Annette ein Buch schreiben, um den Menschen die Angst vor dem Krebs zu verkleinern.

Abschließend fügt sie hinzu: „Durch meine Arbeit habe ich schon so viele tolle und starke Frauen kennen gelernt habe, jede ist mir sehr ans Herz gewachsen“.

Weitere Infos unter www.psychoonkologie-gertdenken.de und www.praxis-weiterblick.de

Text: Annette Mertens

Fotos: privat

 

„Nichts sollte sich ändern und doch ändert sich alles“

74 Gedanken zu “„Nichts sollte sich ändern und doch ändert sich alles“

  1. Morgen schon muß ich wieder einmal auf eine Beerdigung. Genau, Krebs war die Ursache. Und erfahren habe ich es von einem anderen Patienten der Onkologie.
    Die Angst vor Krebs ist begründet. Schon vor mehreren Jahrzehten versuchten wir, aufzuklären, das Thema den Menschen näherzubringen und vor allem für vorbeugende Maßnahmen, Prävention und Frühdiagnostik zu werben: jeder dritte Europäer wird an Krebs sterben! Eins, zwei, drei? Es ist simple Statistik (ach ja, Statistik ist nicht so simpel und man kann jede Menge Schindluder damit treiben. Aber darum geht es hier nicht.).
    Also: Angst, durchaus. Genauso viel oder wenig wie vor Coronaren Gefäßerkrankungen oder anderen potentiell tödlichen oder zumindest einen schwer behindernden Erkrankung.
    Aber bitte keine lähmende Angst, sondern nur jene, die einen dazu bringt, das, was zu tun ist, in Angriff zu nehmen. Um das einigermaßen gesunde Leben zu bewahren, Lebenszeit zu verlängern.
    Gleichwohl, am Ende folgt der unvermeidliche Tod. Irgend eine Erkrankung wird uns einholen, und um so älter wir werden, um so häufiger wird es Krebs sein. Aller Vorsorge, aller Forschung zum Trotz: an irgend etwas werden und müssen wir schließlich sterben.

    Gefällt 1 Person

    • Das tut mir leid, mein herzliches Beileid.
      Der Krebs, seufz, ich halte ihn für eine eingebaute Zeitschaltuhr, damit wir nicht fünfhundert Jahre alt werden und genug Platz für die Nachkommen bleibt. Sobald es einen nahestehenden Menschen trifft, sehe ich es allerdings auch nicht mehr so abgeklärt.

      Like

      • Richtig, die Krankheiten sind ein Regulativ, unserer Lebendigkeit und damit zwangsläufigen Unvollkommenheit geschuldet. Was uns noch lange nicht ergeben nicken läßt, insbesondere wenn wir daran denken, wie leidvoll Krankheit und gerade hier auch Behandlung für die Betroffenen sind. Weiter wird geforscht, weiter werden wir Mittel finden… Und doch nicht ewig leben! Nicht einmal die, die sich diese Mittel dann noch leisten können. (Wie bekannt ist eigentlich, dass sich die Chemotherapie bis auf die überhaupt nicht menschenfreudlich gedachte Anwendung von Senfgas zurückführt? Das nur nebenbei!)
        Danke dir, aber ja: der Tod ist gewiß. Jedem. Bloß sind wir alle miteinander überzeugt, dass er sich doch noch Zeit lassen kann! Und noch ein wenig. Und noch… Keiner kennt seine Stunde murmelten schon die Alten und befragten doch jedes fragwürdige Orakel danach.

        Gefällt 1 Person

  2. Pingback: „Für mich ist das Glas immer halb voll“ | Ruhrköpfe

  3. Liebe Annette, du stellst eine unglaublich bewundernswerte Frau vor mit viel Kraft und Überlebenswillen. Es ist faszinierend, ihren Lebensweg zu lesen und und wie sie trotz extremer Höhen und Tiefen, doch immerwieder einen Weg findet.
    Danke für den Beitrag
    Liebe Grüße Andrea

    Gefällt 3 Personen

  4. was für eine spannende geschichte, die wieder mal deutlich zeigt, dass jeder mensch seinen eigenen weg gehen kann und soll und die konventionellen für viele einfach nicht gemacht sind. habe ich sehr gern gelesen, annette ist bestimmt eine tolle frau!

    Gefällt 3 Personen

  5. Es ist faszinierend, ihren Lebensweg zu lesen. Ihr Lebensweg hat so viele interessante Abzweigungen genommen. Du hast sie wunderbar vorgestellt und ich habe einen ähnlichen Menschen in meinem Leben und bin jeden Tag dankbar dafür.
    Danke für die Vorstellung einer Frau, an der man sich durchaus orientieren sollte.
    Liebe Grüße an Dich, Annette 🤷

    Gefällt 3 Personen

  6. Was für eine wahnsinnig interessante, vor allem aber hoch zu schätzende Geschichte. Beste Wünsche für Annette, weiterhin. Da werden wirklich sehr viele auch meiner mal als „groß“ angesehenen Probleme zur Kleinigkeit. Danke für dieses motivierende Posting, Annette! LG Michael

    Gefällt 3 Personen

  7. Hallo, ihr zwei Annettes, die eine schreibt ganz wunderbar, die andere wird noch viel wunderbarer beschrieben – mit ihren Ideen, mit ihrer Kraft, mit ihrem Lebensmotto – wirklich faszinierend. Dass Frau in gesunden Zeiten umwerfende Ideen hat und diese auch umsetzt, ist ja noch zu verstehen. Aber dass das auch bei einer Krankheit funktioniert, ist schon zum Hut ziehen – chapeau!
    Lieben Gruß von Clara

    Gefällt 4 Personen

  8. Ich schreibe so was selten, aber nach dem, was ich hier bei dir lese, ist diese Annette ein echtes Vorbild. „Gucken, was geht“ – so notwendig, so ein gutes Lebensmotto! :-D
    Adventssonntagsmorgenkaffeegruß, immer noch :)
    (PS: Dein Beitrag war übrigens bei mir nicht im Reader, und ich hab extra gecheckt, dass ich dir unverändert folge.)

    Gefällt 4 Personen

    • Danke, liebe Christiane, ich freue mich sehr über deine Worte und den Kaffeegruß natürlich auch :-) Was da mit dem Reader nicht stimmt, habe ich leider noch nicht heraus gefunden. Weißt du, ob es in anderen Blogs damit auch Probleme gibt?
      Weihnachtskeksrüberschieb und liebe Grüße in die neue Woche, Annette

      Gefällt 2 Personen

      • Es passiert immer wieder mal, dass aus heiterem Himmel ein Beitrag nicht im Reader auftaucht, und nur WP weiß warum. Dagegen hilft in der Regel, den Beitrag mal kurz rauszunehmen („unpublish“) und dann mit einem zeitlichen Sicherheitsabstand von einer Viertelstunde wieder reinzustellen. Dann bleiben Kommentare und Likes, nur der Beitrag taucht dann wie von Zauberhand meist wirklich im Reader auf.
        Okay, JETZT ist es zu spät dafür (der Reader hat nur zwei Tage), das muss man sofort machen.
        Morgenkaffeegruß und Keks auch für dich! :-D

        Gefällt 3 Personen

  9. Annette M. !! Dieser Beitrag stellt Annette Gertdenken genau so dar, wie sie ist: emphatisch, kraftvoll und Kraft spendend, liebenswert, mutig, lebensbejahend, positiv…..als ich im Juni 2019 die Diagnose Brustkrebs erhielt, stand die Welt erst einmal still. Dann erfuhr ich von dem Angebot „Yoga für an Brustkrebs erkrankte Frauen“ bei Annette. Vom ersten Telefonat an, war Annette eine kraftspendende Quelle für mich. Bewegung mit Yoga während der Therapie tat immer gut, wie schlecht es mir auch ging. Dienstag war immer Freudentag. Annette und betroffene andere Frauen (mittlerweile sind daraus Freundschaften geworden) zu treffen – Bewegung, Gespräche, gemeinsam lachen und sich auszutauschen……was für ein Glück in dieser schweren Zeit.
    Mein großer Wunsch wäre auch, ein Krebszentrum, in dem Betroffene, Angehörige all die Dinge bekommen, die in dieser schweren Zeit gut tun. Leider fehlen diese Angebote in der heutigen Krebstherapie noch arg.
    Annette hat da ganz klar den Anfang gemacht und ihre Beratung in der Praxis-Weiterblick ist in Coronazeiten ein guttuendes Angebot und erhellt die trüben Gedanken.

    Einen schönen 3. Advent wünscht
    Maggie 🌺

    Gefällt 7 Personen

    • Danke, liebe Maggie, für den Tipp mit Annette und für deine offenen Worte. Ich kann mich noch gut erinnern, wie du dich damals auf die Yoga-Termine gefreut hast, wie gut es dir tat und was sich seither bei dir verändert hat! Toll! Ich bin sehr zuversichtlich, dass Annette das Krebszentrum bald realisiert :-) Viele liebe Grüße, weiterhin alles Gute und eine angenehme Woche, Annette

      Like

Hinterlasse eine Antwort zu Ruhrköpfe Antwort abbrechen